AHEAD.

 

Ein Mann steht auf der Bühne. Mit dem Rücken zum Publikum. Neben ihm spielen einige der weltbesten Musiker ihres Faches. Er tut so, als würde er seine Band ignorieren und die Hunderten Fans missachten, versunken in seine Musik. Und dennoch sind alle total auf ihn fokussiert. Er spielt nicht nur auf seiner Trompete, die anderen Musiker scheinen auf ihn zu reagieren, als seien auch sie seine Instrumente. Und das Publikum zieht er vollends hinein in den Strudel seiner musikalischen Energie, hält es gefangen in einem Netz komplizierter Harmonien, Rhythmen und Stimmungen. Miles Davis live in Concert.

Kennen Sie das: Sie haben ein Bild im Kopf, das Sie hören können. Nicht so sehr eine bestimmte Melodie. Es ist mehr eine Art  unverwechselbares Klangerlebnis. Miles Davis ist für mich so ein klingendes „Kopfbild“, das immer wieder einmal aus dem Unterbewussten auftaucht, oft ganz unvermutet.  Geprägt wurde dieses Klangbild bei einem Konzert Mitte der 1980er Jahre. Miles Davis war – wie schon so oft zuvor - wieder einmal dabei, seine Musik neu zu erfinden, einen erfolgreichen ästhetischen Pfad zu verlassen, kurz bevor dieser zu einer Art Mainstream  wurde, und einen völlig neuen Stil zu prägen. Er machte es seinem Publikum – auch seinen begeisterten Fans, wie ich einer war und bin – nicht immer leicht, ihm alle paar Jahre in eine völlig neue, fremde, manchmal auch zunächst schockierende Klangwelt gleich zu folgen. Aber genau darauf war er am meisten Stolz: mindestens vier oder fünf Mal in seinem Leben die Musik revolutioniert zu haben. Und das bedeutete auch jedes Mal genau das, womit er gerade eben noch gefeiert wurde, bewusst zu verwerfen, hinter sich zu lassen, sich neuerlich einen Schritt vor dem Zeitgeist, dessen ästhetische Standards er selbst gesetzt hatte,  zu positionieren. Die Energie die Miles Davis zu  dieser künstlerischen Lebensauffassung brauchte, spürt man in fast jedem seiner Stücke – egal ob Eigenkomposition oder geniale Interpretation eines anderen Komponisten, wie beispielsweise  das Concerto de Aranjuez von Rodrigo. Und diese Energie bewahrte  er sich bis zu seinem Tod: Miles Davis starb an den Folgen eines Schlaganfalls, den er im Spital nach einem Streit mit seinem Arzt erlitten hatte.

Gute Musik hat, wie nur wenige Kunstformen, die Macht, Menschen in ihren Bann zu ziehen, Leidenschaften zu entfachen.  Offenbar geht es vielen  Menschen so, und bei weitem nicht nur jenen aus der Musikbranche: Bestimmte MusikerInnen und deren Werk werden zu einer Art secret passion. Gabriele Jurjevic-Koller, die Direktorin der Universitätsbibliothek der Angewandten hat das erkannt und daraus eine hochkarätige Veranstaltungsreihe geformt. Im Gespräch mit Edek Bartz, Art Fair-Direktor, Musikexperte und Lehrer an der Universität für angewandte Kunst, haben Persönlichkeiten aus dem nichtmusikalischen Kunstsektor vor einem stets staunenden und begeisterten Publikum über ihre Musikleidenschaften gesprochen und Hörbeispiele dargeboten, meist von der CD – aber nicht nur. Die Zusammenfassung dieser Gespräche liegt nun in gebundener Form vor, wofür vor allem Gabriele Jurjevic-Koller großer Dank gebührt.

Ich selbst habe mich schon vor Jahren – außerhalb dieser Veranstaltungsreihe - mit meiner musikalischen secret passion geoutet. Am Beginn der Präsentation über die Zukunft der Angewandten anlässlich meines Hearings im Bewerbungsverfahren  für die Funktion des Rektors der Universität für angewandte Kunst spielte ich ohne Vorwarnung fast 4 Minuten lang Musik von einer Miles Davis-CD: „Miles Ahead“. Sehr programmatisch. Und ich konnte die offensichtliche Irritation einiger der beim Hearing anwesenden Personen erst auflösen, als ich dann endlich verbal die Parallele zog von Miles Davis, dem unermüdlichen Erneuerer musikalischer Stilrichtungen zur Grundidee einer Kunstuniversität, wie ich sie verstehe, einer Universität, die den Anspruch hat , stets „miles ahead“ zu sein. Einer Universität, in der es darum geht, an der Produktion von Veränderung mitzuwirken. Und damit an der Produktion von Zukunft.

Gerald Bast

 

aus: G. Koller, E. Bartz, G. Bast (Hg.) Secret Passion. Künstler und ihre Musik-Leidenschaften / Artists and their musical desires. Springer-Verlag, 2010