Gerald Bast
Können Künstler Forscher sein?
Eine notwendige Abhandlung über das Selbstverständliche.
Forschung = Wissenschaft?
Können Künstler Forscher sein? Diese Frage beschäftigt mittlerweile seit mehr als einem Jahrzehnt mit wachsender Intensität Expertinnen und Experten.
Künstlerische Forschung oder - als eine von vielen in Gebrauch stehenden englischen Termini – arts-based research ist eines der großen Themen an den internationalen Kunstuniversitäten und -akademien. Interessanterweise sind es in der Mehrzahl noch Kunstwissenschafter und Kunstwissenschafterinnen, die von Symposium zu Symposium reisen, und über künstlerische Forschung unter diesem und noch vielen mehr oder weniger synonymen Begriffskonstruktionen publizieren. „When I take part in various international research conferences, I discover that what is going on under the heading of ‘artistic research’ is primarily the application of ‘scientific’ perspectives to artistic works. This research takes place from without rather than from within”[1] beschreibt dieKünstlerin Efva Lilja, Vice-Chancellor der University of Dance and Circus in Stockholm, Schweden, ihre Erfahrungen im internationalen akademischen Konferenzkarussel. Die Tatsache, dass sich Künstlerinnen und Künstler zu diesem Themenkomplex noch in relativ geringer Zahl öffentlich äußern (ob und dass sie Forschung einfach praktizieren ist eine andere Sache), ist wohl mehr als bezeichnend dafür, wer in der Debatte über künstlerischen Fortschritt das Sagen hat und sie ist nicht zuletzt ein Beleg für das Fehlen einer Artistic Community, die als Pendant zur Scientific Communty mit der autonomen Vernetzung und Bewertung ihrer Produktion auch Entwicklungsmacht in ihrem eigenen Sektor ausüben könnte. Denn die Scientific Community ist es, die mit den „Machtinstrumenten“ der Publikation, der gegenseitigen Zitierung und der wechselseitigen Begutachtung wissenschaftlicher Produktion, insbesondere hinsichtlich deren innerer Qualität und ihrer extern wirksamen wissenschaftlichen Erneuerungskraft den Fortschritt der Wissenschaften (zumindest im Bereich der Grundlagenforschung) kontrollieren, steuern und stimulieren.
Es gab Zeiten, in denen die Wissenschaften als Teil des Kosmos der Künste gesehen wurden und das Ringen um wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt als künstlerische Tätigkeit. Heute haben wir es mit dem umgekehrten Phänomen zu tun: Die Wissenschaften haben den Begriff der Forschung für ihren Bereich monopolisiert. Forschung im Zusammenhang mit den Künsten wird in der Regel noch immer als wissenschaftliche(!) Forschung über Kunst oder bestenfalls als wissenschaftliche Forschung mit künstlerischer Illustration gesehen. Zum Teil führte diese Entwicklung sogar dazu, dass gewissenmaßen in einem Verzweiflungsreflex versucht wurde, die Kunst selbst als eine Art Wissenschaft stilisiert wurde, wohl um der Kunst die Aura des Bedeutungsvollen zu geben, die sie offenbar zwischenzeitig verloren hatte. Und natürlich hatte diese Veränderung der gesellschaftlichen Gewichtung der Künste nicht zuletzt einen politischen und ökonomischen Hintergrund; in den veränderten politischen und wirtschaftlichen Machtkonstellationen fanden die Repräsentanten der neuen gesellschaftlichen Kraftfelder offenbar andere, wirksamere Methoden bzw. Medien zur Sicherung und Ausweitung ihrer Machtsphären, als die Künste. Die so genannte Autonomisierung der Kunst, die alles andere als ein selbstbestimmter Befreiungsschlag der Künstler selbst war, hatte ihren Preis …
Wissenschaft versus Kunst
In der bisweilen heftig geführten Diskussion, ob „künstlerische Forschung“ überhaupt eine zulässige Begriffskombination sei, wird häufig angeführt, dass wissenschaftliche Forschung durch Objektivität, Rationalität und Systematik gekennzeichnet sei, während die Kunst durch Subjektivität, Emotionalität und Intuition charakterisiert werde, weshalb die Begriffe „Kunst“ und „Forschung“ einander ausschließen würden. Dass sich in dieser Schlussfolgerung selbst eine logische Lücke auftut, wird dabei geflissentlich übersehen. Hier zeigt sich wieder einmal, dass lange tradierte semantische Konnotationen eine besonders hohe Reflexionsresistenz haben. Angesichts der in der Wissenschaftsgeschichte dokumentierten Rolle von Intuition in bahnbrechenden Forschungsleistungen und im Lichte der spätestens mit der Quantenphysik belegten Unschärfe der tradierten Begriffsinhalte von Objektivität und Wirklichkeit verschwimmt auf dieser Ebene eine Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst.
Leonardo da Vinci soll einmal gesagt haben „Ich male nicht mit dem Pinsel, sondern mit dem Kopf.“ Nun gilt zwar Leonardo als Paradebeispiel des universalistischen Renaissancemenschen, der als bildender Künstler ebenso wie als Erfinder technischer Apparaturen Maßstäbe gesetzt hat. Und doch: Leonardo hat von der Malerei gesprochen und nicht von der Technik, als er auf die Unverzichtbarkeit intellektueller Anstrengung beim – eben künstlerischen – Produktionsprozess hingewiesen hat.
Für Nelson Goodman liegt der Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft nicht im Unterschied „zwischen Gefühl und Tatsache“, sondern im „Unterschied in der Dominanz bestimmter spezifischer Charakteristika und Symbole“.[2]
Robert Pfaller beschreibt und analysiert die mehrschichtigen Missverständnisse im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst anschaulich: „Die Kunst leistet oft schon in dem, was sie tut, künstlerische Forschung – und nicht erst in dem, was sie darüber sagt oder schreibt. …Kunst ist nicht nur ein geduldiger Gegenstand von Wissenschaften, der wie ein Patient mit entblößtem Oberkörper darauf wartet, untersucht, angesehen, abgeklopft und abgehört zu werden. Sie braucht daher auch nicht zu ihrem eigenen Arzt zu werden und über sich selbst Diagnosen zu stellen beginnen. Vielmehr muss die Kunst als eine Verbündete der Wissenschaften angesehen werden. Sie nimmt auf derselben Seite an derselben Arbeit und am selben Kampf teil.“[3]
Oswald Oberhuber nähert sich dieser Thematik von einer anderen – künstlerischen – Seite: Für ihn geht es in der Kunst, anders als in den Wissenschaften und in der Technik nicht um Entwicklung, die immer auch eine Verbesserung darstellt: „Die Kunst ist anders, sie verbessert nichts, ein Bild wird nicht um das Dreifache besser, als ein voriges Bild, das ist der wesentliche Unterschied.“[4]. „Permanente Veränderung“[5] ist für Oberhuber eines der signifikanten Merkmale von Kunst. In den Wissenschaften bringen Veränderung und Erneuerung immer auch entweder Widerlegung und Ablösung bestehenden Wissens oder zumindest die Erweiterung und Ergänzung von Wissen, also das Ausfüllen von Wissenslücken. Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst besteht auch darin, dass ästhetische Neuerungen das Vorherige nicht ungültig machen. Die Erkenntnisse von Kopernikus haben jene von Ptolemäus widerlegt und damit ungültig gemacht. Picasso hat van Gogh weder widerlegt noch in seiner Bedeutung geschmälert. In der Kunst ist also Veränderung immer auch Erweiterung, während Erneuerung in der Wissenschaft sowohl Ergänzung als auch das Ersetzen des „state of the art“ darstellt.
Die wirklich relevante Frage, ob es sich bei einem wissenschaftlichen bzw. künstlerischen Erkenntnisgewinnungsprozess um Forschung handelt oder nicht, liegt darin, ob der Prozess zur Erlangung neuen wissenschaftlichen oder künstlerischen Wissens dokumentiert und damit nachvollziehbar ist. Gemeinsam ist der wissenschaftlichen und der künstlerischen Forschung auch, dass bei beiden der Forschungsprozess vom „state of the art“ ausgeht, diesen bewusst an den Anfang stellt, als Ausgangspunkt nicht nur voraussetzt, sondern auch als solchen offen ausschildert, zitiert. In den Wissenschaften ist das im Allgemeinen selbstverständliche Tradition und „good scientific practise“, während sich der künstlerische Forschungsprozess mit diesem Ansatz erst mehr oder weniger mühsam von einer dem künstlerischen Geniebegriff verpflichteten Tradition lösen muss, die Neues, kraft des eigenen Genies aus sich selbst heraus entstehen ließ. Dombois im Lichte der unterschiedlichen Traditionen von Wissenschaft und Kunst zu recht auf diese, für den Forschungsanspruch zentrale und unverzichtbare Prämisse hin: „In der Forschung entsteht nichts aus dem Nichts. Die Forscherin, der Forscher ist kein Naturereignis, das aus sich selbst schöpft, damit sich durch sie, ihn die Natur formuliere. Genierhetorik macht unter Forschenden keinen Sinn. Das Recht zur Forschung erwirbt man sich durch eigene Fertigkeiten und die Kenntnis des Vorangegangenen. Jedes Bild, jeder Satz, jeder Klang steht in Bezug zu den früheren. Forschung ist eingebettet in einen historischen und gesellschaftlichen Kontext.“[6]
PEEK - ein Paradigmenbruch
Mit dem 2009 in Österreich auf Initiative der Kunstuniversitäten und nach langen und beharrlichen Diskussionen installierten Programm zur Förderung und Entwicklung der Künste (PEEK) wurde ein kulturpolitisch paradigmatischer Perspektivenwechsel in der Sichtweise und der Behandlung künstlerischer Forschung erreicht. Das Programmdokument des organisatorisch beim österreichischen Wissenschaftsfonds -FWF (!) angesiedelten Instruments zur Stimulierung ästhetischer Innovation greift die wesentlichen Konflikt- und Problemzonen des Diskurses über künstlerische Forschung auf und kommt zu definitorischen Feststellungen von bemerkenswerter Klarheit und Prägnanz. „Jede künstlerische Produktion basiert auf der Arbeit und der Kreativität von KünstlerInnen, die mit künstlerischen Methoden bzw. Fertigkeiten zu kunstspezifischen Ausdrucksformen gelangen. Mit dem Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste (PEEK) geht es um die Förderung jenes Prozesses, bei dem künstlerische Wissensproduktion von Reflexion begleitet wird und so zu einem Erkenntnisgewinn in der Gesellschaft führt. … Der kreative Prozess und dessen Rezeption müssen jedoch intersubjektiv reflektiert, dokumentiert und präsentiert werden, um im Sinne der Arts-based Research nachhaltig dem künstlerischen Diskurs und der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung zu stehen.…“[7]
Oft wird behauptet, das Wesentliche an der künstlerischen Forschung sei der Prozess, um damit eine Abgrenzung von der nicht- forschenden künstlerischen Produktion zu konstruieren. Aber genauso wenig, wie man wissenschaftliche Forschung auf den Forschungsprozess reduzieren kann, ist es möglich, künstlerische Forschung vor einem allfälligen Ergebnis dieses Forschungsprozesses enden lassen zu wollen. Gleichwohl steht natürlich auch im Bereich der künstlerischen Forschung außer Frage, dass nicht jeder Forschungsprozess zu einem positiven Forschungsergebnis, d.h. zu einer tatsächlichen neuen ästhetischen Erkenntnis, zu einem künstlerischen Kenntniszuwachs oder gar zu einem Artefakt führen muss.
Warum künstlerische Forschung?
Warum ist es eigentlich so wichtig, ob es künstlerische Forschung gibt, oder nicht, ob es sie geben kann und darf? Warum taucht gerade jetzt diese Frage auf? Ausschlaggebend dafür ist der Umstand, dass Kunstuniversitäten, - hochschulen und –akademien (wie immer sie auch heißen oder in ihrer Geschichte geheißen haben mögen) immer schmerzhafter erkennen müssen, dass sie – im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Universitäten - als Institutionen so gut wie keinen genuinen Anteil an der ästhetischen Entwicklung haben. Die Entwicklung und Erschließung der Künste ist zwar seit langer Zeit in den österreichischen Hochschulgesetzen und im Dienstrecht der Hochschullehrer verankert, im tatsächlichen Leben an den Kunstuniversitäten hat die Entwicklung der Künste, also das Pendant zur Entwicklung der Wissenschaften, an den Kunstuniversitäten – wenn überhaupt – nur eine marginale Bedeutung.
Die Entwicklung der Künste ist exzessiv ausgelagert in den außeruniversitären oder vielmehr in den privaten Bereich des Künstlers bzw. der Künstlerin, wobei der Begriff „ausgelagert“ durchaus in Frage gestellt werden kann, wenn man sich die Geschichte der Kunstakademien, Kunsthochschulen und Kunstuniversitäten in ihrem institutionellen Verhältnis zu ästhetischer Innovation betrachtet. Jetzt ist es jedenfalls schon einige Zeit der Kunstmarkt, der die Richtung der ästhetischen Innovation steuert und nur er verleiht Wert und Reputation. So etwas, wie eine „scientific community“, die zumindest in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung die Qualität beurteilt und damit den wissenschaftlichen Fortschritt steuert, so etwas gibt es im Bereich der Künste nicht. Die Situation der Künste, umgelegt auf die Wissenschaften, würde bedeuten, das nur die Chemische Industrie entscheidet, was gute und wichtige neue Forschungsansätze in der Chemie sind oder dass die Zahl der im Buchhandel verkauften wissenschaftlichen Arbeiten in den Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften den wissenschaftlichen Wert dieser Arbeiten definiert.
Dass die Kunstuniversitäten seit einigen Jahren aktiv daran arbeiten, zumindest einen Teil der Definitionsmacht über künstlerischen Fortschritt zu erlangen, ist nicht nur eine Frage der institutionellen Eitelkeit und Machtgelüste, sondern eine Frage des institutionellen Selbstverständnisses im Konzert der akademischen Institutionen und eine Frage der Wertigkeit von Kunst und Kunstuniversitäten im gesellschaftlichen System. Kunstuniversitäten, die als reine Lehranstalten fungieren, die lediglich die Personalressourcen an einen Sektor liefern, von dem dann (im Gegensatz zu den künstlerischen Lehranstalten) tatsächlich wichtige Kunst produziert wird und künstlerischer Fortschritt, künstlerisches Wissen generiert wird, leiden insbesondere in unserer wettbewerbsorientierten Wahrnehmung an einem Defizit an gesellschaftlicher Anerkennung und Wertigkeit. Das ist nicht allein ein psychologisches Problem, sondern in Zeiten ökonomischer Spannungen wird dies in zunehmendem Ausmaß auch zu einer latenten existenziellen Gefahr für Kunstuniversitäten selbst. Die dahinter liegende, noch wesentlich größere Gefahr entsteht aber für die Kunst selbst und für die sozialen Systeme, in denen Kunst stattfindet: Wenn die Definitionsmacht für Fortschritt beim Kunstmarkt und quotengeleiteten Museen und Kunsthäusern liegt, dann kann und wird das nicht ohne inhaltliche Konsequenzen bleiben. Man bedenke nur, in welchem Zustand die Wissenschaften heute wären, gäbe es keine im Wesentlichen interessensunabhängige, staatlich finanzierte und von der scientific community gesteuerte Grundlagenforschung, sondern nur mehr industriefinanzierte anwendungsorientierte Forschung. Bei der Implementierung künstlerischer Forschung – oder arts-based research – in das Tätigkeitsspektrum von Kunstuniversitäten geht es also um nicht weniger, als um die Zukunft der Kunst und um deren künftige Positionierung in der Gesellschaft.
Kunst als Antithese zu Spezialisierung und Fragmentierung?
Wie das Beispiel der wissenschaftlichen Forschung – und der forschungsgeleiteten wissenschaftlichen Lehre zeigt, kann es aber auch nicht unproblematische Konsequenzen haben, wenn die Entwicklung des Erkenntnisfortschrittes allzu bedingungslos Systemen (wie Universitäten oder die scientific community) überantwortet wird, die ganz wesentlich auf persönlicher Konkurrenz aufbauen: Die Geschichte der Wissenschaften ist in zunehmendem Ausmaß zu einer Geschichte der Spezialisierung, der Abtrennung und Abgrenzung geworden. Subdisziplinäre Nischenbildung war und ist das aktuelle Erfolgsmodell für wissenschaftliche Anerkennung und Karriere. Jeder ist sich selbst der Nächste. Disziplinenübergreifendes wissenschaftliches oder gar wissenschaftlich-künstlerisches Arbeiten und Zusammenarbeiten ist die große Ausnahme an den Universitäten – sowohl in der Forschung, als auch in der Lehre. Das Studium besteht heute in weiten Teilen aus dem konsekutiven Ablegen einer Unzahl von kleinen und kleinsten Prüfungsteilen über spezialisierte Lehrveranstaltungsinhalte aus dem wissenschaftlichen Nischengarten. Als Kommunikationsmethode wird dabei der „Multiple Choice Test“ immer mehr zum Standard. Für das Herstellen von Beziehungen zwischen verschiedenen Wissensfeldern fehlen Zeit und andere Ressourcen. In den Künsten sind die eben beschriebenen Tendenzen (noch) nicht so exzessiv vorangetrieben. Im Gegenteil: Die Künste und deren Studium waren und sind über weite Bereiche noch immer geradezu die Antithese zu Fragmentierung und Spezialisierung. Seit einigen Jahren bemerken wir vielmehr neuerlich starkes Interesse an einer versuchten Annäherung zwischen Wissenschaft und Kunst. Das Interesse der Kollaboration und/oder Annäherung zwischen Wissenschaft und Kunst scheint heute mehr denn je ein wechselseitiges zu sein. Bekannt ist die starke Fokussierung von Künstlern auf die Wissenschaften in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, was entscheidende Bedeutung für die Herausbildung der Moderne in Architektur, Design und Bildender Kunst hatte. Eine zweite Welle in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte ursächlichen Einfluss auf die Entwicklung der elektronischen Musik, der Videokunst und der Interactive Art. Das heute feststellbare zunehmende Interesse der Wissenschaft an künstlerischen Produktionsprozessen und künstlerischen Methoden hat mehrere Gründe. Einerseits stellen neue Erkenntnisse in der Physik (experimentelle Quantenphysik), in den Biowissenschaften (insbes. Genetik) und in der Hirnforschung das Dogma der streng deduktiv-analytischen Forschungsmethodologie teilweise in Frage und zeigen durchaus Parallelen zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklungsprozessen auf. Andererseits wird gerade in diesen heute innovativsten Wissenschaftszweigen immer deutlicher, dass oft Bilder eine notwendige Voraussetzung für das Weiterführen wissenschaftlicher Forschungsstrategien sind. Die Visualisierung wird die Basis für das Weiterarbeiten auf neuen Theorieebenen. Umgekehrt hat sich die Kunst zu jeder Zeit neuer Technologien bemächtigt, um sie als jeweils „neue Medien“ für künstlerische Arbeiten zu nutzen. Die heute noch immer als „Neue Medien“ titulierten bildgebenden Verfahren in Form von Fotografie, Video und digitaler Computertechnik sind mittlerweile Jahrzehnte alte Technologien, die der Kunst neue Möglichkeiten eröffneten. Die heute aktuellen bzw. gerade neu entstehenden technologischen Verfahren eröffnen in „unsichtbaren“ Bereichen der Mikro- und Nanowelten neue Dimensionen für wissenschaftliche Forschung. Die Biotechnologie, Mikro- und Nanostrukturen eröffnende bildgebende Verfahren, sowie die Verknüpfung zeitlicher und räumlicher Dimensionen stellen hingegen von der Kunst noch weitgehend ungenutzte Medienpotenziale dar. Aktuelle Phänomene wie „Urban Art“ zeigen noch weitgehend ungenutzte Potenziale für synergetische Interaktionen zwischen Kunst, Sozialwissenschaften und Urbanismusforschung auf. In diesem Sinne ist es mehr als logisch, wenn das österreichische Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste (PEEK) die interdisziplinäre Vernetzung zwischen Wissenschaft und Kunst als wesentliches Element von künstlerischer Forschung erwähnt: „PEEK steht für die Förderung von Arts-based Research, wobei die künstlerische Recherche und die kreative Auseinandersetzung mit Themen und Fragestellungen im Hinblick auf die Entwicklung und Rezeption neuer Kunstformen, künstlerischer Ausdrucksweisen und Methoden, die sich meist in enger Verbindung mit wissenschaftlicher Forschung oder deren Anwendungen vollzieht, zentral sind. PEEK meint weiters die reflektierte Interpretation von Kunstwerken und schließt damit Maßnahmen zum Kompetenzaufbau sowie zur Entwicklung neuer Strategien der Veröffentlichung künstlerischer Produkte ein.“[8]
Forschungsvermessung, Scientifizierung und Akademisierung
Auffallend ist, dass im deutschsprachigen Raum die Zuordnung des Begrifffs Forschung zu den Wissenschaften noch wesentlich ausgeprägter ausfällt, als im englisch-sprachigen Raum die Zuordnung des Begriffs „research“. Das mag damit zusammen hängen, dass die Debatte um künstlerische Forschung bzw. „artistic research“ im englisch-sprachigen und auch im nordischen Europa etwas früher begonnen wurde, als im Rest Europas – und zwar im Bereich der Kunstuniversitäten und Art Schools. Dass – ausgehend vom britischen Universitätssystem - die Forcierung von Aktivitäten im Bereich des „artistic research“ im Zusammenhang mit dem Ausbau des formelbezogenen Finanzierungssystems der Universitäten stand, ist ein Aspekt, der durchaus nicht immer zur semantischen und inhaltlichen Eindeutigkeit des Begriffs artistic research beigetragen hat. Der Druck auf die Universitäten, rein quantitative Nachweise steigender Forschungsaktivitäten zu liefern, um die zur Aufrechterhaltung ihres Betriebes erforderlichen Budgetmittel zu erhalten, hat – vermutlich mehr noch als in der wissenschaftlichen Forschung – zur partiellen Relativierung der inhaltlichen Bestimmtheit des Forschungsbegriffs und der Qualität des Forschungs-Outputs beigetragen. Die bewusste Verwendung des Begriffs „Forschung“ im Bereich der Kunst ist aber nicht nur als Versuch der Absetzung von überkommenen „Genie-Künstler“ Rollenmodellen zu verstehen, sondern wohl auch manchmal als Zeichen dafür, wie stark der von einer zunehmenden Scientisierung, also Vernaturwissenschaftlichung der akademischen Debattenkultur ausgehende gesellschaftliche Druck auch auf den Bereich der Künste ist. Mit Begriffen wie „Labor“, „Inkubator“ „Versuchsanordnung“ oder „Experiment“ wird offensichtlich auch in der Kunst versucht, den Gesetzen der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“[9], denen die wissenschaftliche und (auch wenn Franck diese nicht ausdrücklich erwähnt) künstlerische Welt unterliegt, besser gerecht zu werden. Auch die international vielfach zu beobachtende, beinahe exklusive Zuordnung künstlerischer Forschung zum Sektor universitärer künstlerischer Doktoratsstudien (PhD in practice, Doctor artium) scheint eher der Erfolg kunstfremder Einflussfaktoren zu sein. Einerseits unterliegen die Kunstakademien aus vielerlei Gründen seit Jahrzehnten einem zunehmenden Akademisierungsdruck, der mit dem - für künstlerische Studien nur bedingt gültigen - Argument formal vergleichbarer Studienabschlüsse eine Einreihung in die international normierte Hierarchie akademischer Bildungsinstitutionen (Bachelor – Master – Doktorat) fordert. Andererseits bedingt das Fehlen ausreichender finanzieller und organisatorischer Forschungs-Strukturen für Künstlerinnen und Künstler innerhalb und außerhalb der Kunstuniversitäten und Kunstakademien einen logischen Zug zum künstlerischen Doktoratsstudium, wenn man in den Sektor der künstlerischen Forschung einsteigen will: Es fehlen an den Kunstuniversitäten ausreichend Personalstellen, Atelierplätze und sonstige Ressourcen analog den Laborplätzen für Forscherinnen und Forscher an technisch-naturwissenschaftlichen Fakultäten und es fehlen ausreichende Forschungsförderungsinstrumentarien für künstlerische Forschungsprojekte analog den nationalen Wissenschaftsfonds – PEEK ist da ein ermutigender Anfang. Und dennoch ist der Schluss nicht nachvollziehbar, dass die Beschäftigung mit künstlerischer Forschung an Kunstuniversitäten zwingend die Einrichtung künstlerischer Doktoratsstudien erfordern würde. Natürlich ist und muss künstlerische Forschung an Kunstuniversitäten auch ohne formal-akademisierung bzw. Verstudienrechtlichung möglich sein. Auch in den Wisssenschaften gibt es Forschung nicht, weil es Doktoratsstudien gibt, sondern umgekehrt: Weil wissenschaftliche Forschung Teil des Aufgaben und Tätigkeitsspektrums der UniversitätslehrerInnen ist und finanzielle wie strukturelle Absicherung erfährt, gibt es wissenschaftliche Forschung an Universitäten nicht nur im Rahmen von Doktoratsstudien, sondern – meist noch bedeutender – außerhalb der Absolvierung eines Studiums im Rahmen der beruflichen Tätigkeit als Forscherin und Forscher. Das muss auch und gerade an Kunstuniversitäten möglich sein, wenn man in Betracht zieht, dass berufliche Mobilität von Künstlerinnen und Künstlern bei weitem weniger von formalen Universitätsabschlüssen abhängt, als beispielsweise im Bereich der Wirtschaftswissenschaften oder der Technik.
Künstlerische Forschung findet statt
So viel steht im Lichte der erkennbaren Erfordernisse und Entwicklungstendenzen des Systems Kunst fest: Künstlerische Forschung muss und wird schon in wenigen Jahren als zentraler Aufgabenbereich von Kunstuniversitäten völlig außer Diskussion stehen. Und schon jetzt gilt:
1. Künstlerische Forschung findet statt, ohne dass sie als solche gesondert ausgeschildert wird.
2. Strukturen zur systematischen Förderung von Projekten im Bereich der künstlerischen Forschung (wie das in dieser inhaltlichen Konsequenz einzigartige Programm „PEEK“ das vom - für die Kunstuniversitäten zuständigen - Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung beim FWF zur organisatorischen Umsetzung in Auftrag gegeben wurde) sind zur Stimulierung und Weiterentwicklung der Künste dringend notwendig, ja unverzichtbar.
3. Die inhaltliche Dominanz bei künstlerischen Forschungsprojekten muss bei Künstlerinnen und Künstlern liegen; Wissenschafterinnen und Wissenschafter können beigezogen werden, wenn sich künstlerische Forschung im inter- bzw. transdisziplinären Sektor von Art&Science abspielt – was für beide Bereiche höchst fruchtbringend wäre.
4. Die Durchführung künstlerischer Forschung ist nicht an Doktoratsstudienprogramme gebunden. Künstlerische Forschung kann sowohl als Teil eines Studiums im Rahmen von PhD Programmen als auch unabhängig davon als selbständige Forschungsaktivität durchgeführt werden. Die organisatorische Anbindung an eine Kunstuniversität oder eventuell an ein außeruniversitäres künstlerisches Forschungsinstitut (was derzeit im Gegensatz zu den Wissenschaften, wenn überhaupt, so nur in Ansätzen existiert) scheint aber im Hinblick auf die, einem sinnvollen Forschungsprozess immanenten Kommunikations- und Distributionskomponenten zumindest so lange erforderlich, bis sich eine hinsichtlich Aktivität und Wirkungskraft der Scientific Community vergleichbare Artistic Community etabliert hat.
Die verblüffend einfach anmutende Antwort auf die Frage: Warum brauchen wir eine „Kunst als Forschung“, gibt Florian Dombois: „Weil die Wissenschaft erfolgreich, aber nicht vollständig die Welt zur erklären vermag. Es braucht eine Alternative, die das von ihr Vernachlässigte wieder in den Blick rückt“[10]. Dass weder die Wissenschaft noch die Kunst die Welt je vollständig erklären werden können, ist beiden ebenso gemeinsam, wie die irrational leidenschaftliche Weigerung, dies zu akzeptieren. Nur das Erlebnis des Scheiterns an diesem Bestreben war und ist vielleicht für manche Wissenschafter, die der Illusion der Rationalität der Wahrheit erlegen sind, schwerer zu ertragen, als Künstlern, die mit Walter Benjamin die Kunst selbstbewusst als „Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein“[11] sehen können.
[1] Efva Lilja, Words on Artistic Research, http://www.efvalilja.se/pdf/WordsOnArtisticResearch.pdf
[2] N.Goodman, Sprachen der Kunst, Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1995,S. 234
[3] Robert Pfaller, Erfrischungen ohne Ablage. Wie die Kunst manchmal der Wissenschaft auf die Sprünge hilft, in: Bast/Felderer (Hg.), Art and Now, Springer WienNewYork 2010, 46f
[4] Oswald Oberhuber, Wie Kunst entsteht, Metroverlag 2009, S. 14
[5] Oberhuber, ebd, S. 281ff
[6] Florian Dombois, Kunst als Forschung, in: Bast/Felderer (Hg.), Art and Now, Springer WienNewYork, 2010, S. 85
[7] Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste (PEEK), Programmdokument FWF 2009, S. 3, http://www.fwf.ac.at/de/projects/ar_PEEK_Dokument.pdf
[8] Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste (PEEK), Programmdokument FWF 2009, S. 3, http://www.fwf.ac.at/de/projects/ar_PEEK_Dokument.pdf
[9] Georg Frank, DTV, Frankfurt 2007
[10] Florian Dombois, Kunst als Forschung, in: Bast/Felderer (Hg.), Art and Now, Springer WienNewYork, 2010, S. 86
[11] Theodeor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 4, 254