Was ist los in diesem Land?
Während die massiven Studentenproteste gegen die Zustände an den Universitäten durch die Ankündigung eines groß angelegten, inhaltlich ambitionierten hochschulpolitischen Reformprozess “Dialog Hochschulpartnerschaft” abgefangen werden, verabschiedet sich der Wissenschaftsminister nach Brüssel und der zur Nachbesetzung zuständige Vizekanzler erklärt öffentlich, es bestehe überhaupt keine Eile bei der Suche nach einem neuen Wissenschaftsminister. Die Justizministerin bescheinigt gemeinsam mit ihren Staatsanwälten einem Landeshauptmann öffentlich dessen intellektuelle Schuldunfähigkeit vor dem Strafrecht.
Die Innenministerin erklärt in einem Verbalzynismus, der an die dunkelsten Zeiten der österreichischen Geschichte erinnert, dass Flüchtlinge, die ins Land kommen, zunächst einmal interniert werden, – was natürlich keine verfassungswidrige Freiheitsberaubung sei, denn sie könnten sich ja innerhalb des Lagers völlig frei bewegen. Der Bundeskanzler ist zunächst gegen Einsperren, einer Bundesministerin dreht es sogar verbal den Magen um, beide wollen sich nach einer zweitägigen Nachdenkphase den Vorschlag der Innenministerin dann aber noch genau anschauen, ob und inwieweit er nicht vielleicht doch verfassungsrechtlich gedeckt sei.
Das Mitglied einer Landesregierung bietet einem potenziellen ausländischen Wirtschaftsinvestor die österreichische Staatsbürgerschaft an und verlangt dafür ganz offen eine Parteispende. Er wird nicht vom Staatsanwalt vorgeladen, sondern bekommt im Fernsehen Gelegenheit, sich als Opfer einer rechtswidrigen Abhöraktion, die Teil einer politischen Schmutzkübelkampagne sei, zu stilisieren.
Einige wenige regen sich kurz auf über dieses “Sittenbild”. Dann wird die Schraube der politischen Kulturlosigkeit eine Umdrehung weiter gedreht. Und die gesellschaftliche Toleranzgrenze wird neuerlich nachjustiert: Was vorgestern noch als schamlos galt, wird übermorgen toleriert und ein halbes Jahr später zur politischen Geschäftsgrundlage.
Was muss noch passieren in diesem Land, bevor alle Dämme brechen? Wird Kultur endgültig verbannt in Museen, Theater und Konzertsäle, die dann als kulturelle Stundenhotels zur Erholung von den täglichen Grauslichkeiten dienen, als geistige Rehabilitationszentren, damit man mental wieder in der Lage ist, mit der Realpolitik umzugehen? Oder gibt es eine Chance, dass Kunst und Kultur wieder aktiv teilnehmen am Wettstreit um die Definitionsmacht des gesellschaftlichen Wertesystems und der Zukunft unserer Gesellschaft?
Gerald Bast, Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien, 2010